WEISST DU NOCH?

 

WEISST DU NOCH, DAMALS, ALS wir der Libelle zusahen, wie sie mühevoll ihren Kokon abstreifte, um ein völlig neues Leben anzufangen? Hätten wir sie aus ihrer starr gewordenen Schale befreit, wäre das ihr Untergang gewesen. Wer leben will, muss kämpfen. Muss seine Flügel selbst glattstreifen.


 

Nicht weit von hier saß ich mit dir.
Vor einiger Zeit, es sind wohl Jahre.
Wenn wir uns im nächsten Traum begegnen, werde ich dich fragen: ‚Weißt du noch?‘

Es war dieselbe Sonne, die sich in denselben Farben des Wassers spiegelte.
Es war dieses eine Mal, als der Frühling
gähnend um die Ecke bog.

Es war dieses andere Mal, vielleicht der Anfang des Sommers. Wie immer hattest du weder Badehose noch Handtuch dabei und bist trotzdem ins kalte Wasser gesprungen. Der Hund hinterher.

Abgesehen von dir, ist alles noch wie damals.
Damals klingt weit weg und fühlt sich doch wie gestern an.

Damals als sich dieser Ast im Maul des Hundes so derart verspießte, dass wir Angst bekamen.

Damals als wir der Libelle zusahen, die mühevoll ihren Kokon abstreifte, um ein völlig neues Leben anzufangen. Hätten wir sie aus ihrer starr gewordenen Schale befreit, wäre das ihr Untergang gewesen. Wer leben will, muss kämpfen. Muss seine Flügel selbst glattstreifen.

Wir philosophierten über Tier, Mensch & Natur.
Über Sinn und Unsinn,
über Höhen und Tiefen,
Leben und Sterben,
Freude und Leid.

Ich weiß jetzt: Alles liegt so dicht nebeneinander, dass es mein Herz fast in den Wahnsinn treibt.

Ich weiß auch, dass Trauer und Wut
eine seltsame Schnittmenge haben.

Beides ist immer noch da.
Aber nicht mehr so stark, dass es mich durchbohren könnte.

Ich frage mich, wozu Erinnerungen da sind.
Soll man sie festhalten oder loslassen?
Soll man sie feinsäuberlich ordnen – die guten, die mittelmäßigen und die schlechten?

Ich spüre den Frühling.
Geduldig wartet ein neues Leben auf mich.
Ohne dich.
Ohne euch, wenn ich den Hund mitzähle,
der dir klischeehaft ähnlich war.

Das Wasser plätschert ungerührt vor sich hin, die Sonne scheint auf mein Gesicht.

Manches tut immer noch weh und manches ist einfach, wie es ist.
Alles wird gut, wenn nicht noch besser – dieser Spruch ist von mir. Das Post-It klebt tapfer auf meinem Spiegel.

Wenn ich an sonnigen Tagen am Wasser sitze, dann glaube ich sogar, was ich da aufgeschrieben habe.

Die Frage beschäftigt mich aber weiterhin: Wohin mit den Erinnerungen aus unzähligen Jahren, die an so verdammt vielen Orten lauern?

xo, Jeanette

 
 
In die TiefeJeanette Fuchs